Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen wurde am 5. August 1950 vor dem Stuttgarter Schloss verkündet. Sie gilt als das Grundgesetz der deutschen Heimatvertriebenen. In ihrem Kern enthält sie einen Aufruf zum Verzicht auf Rache und Gewalt trotz des eigenen gerade erlittenen Unrechts und ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines einigen Europas, zur Verständigung zwischen den Staaten, den Völkern und Volksgruppen. Sie war zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung am 5. August 1950 ihrer Zeit weit voraus und eine große moralische Leistung der Vertriebenen, die damals noch nicht wussten, was überhaupt mit ihnen geschehen sollte und wie es weiterging. Tausende befanden sich zudem noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Aber die Charta spricht auch vom Recht auf die Heimat, als einem von Gott geschenkten Grundrecht der Menschheit, das in Bezug auf die Heimatvertriebenen bis heute nicht verwirklicht ist. Dazu heißt es: "Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert."

Als erster auf der Liste der Unterzeichner steht ein Ermländer: Dr. Linus Kather. Der Bruder von Kapitularvikar Arthur Kather war Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen.

Kallers letzter Appell: Werdet Apostel!

Am Hochfest der Apostelfürsten Petrus und Paulus predigte Bischof Maximilian Kaller am 29. Juni 1947 - also eine Woche vor seinem Tod am 7. Juli - in Werl vor zehntausenden Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die unter widrigsten Umständen und unvorstellbarem Mühen nach Werl gekommen waren. Bischof Kaller fühlte sich an jene beeindruckende Zahl von Pilgern erinnert, die seinem Aufruf zu den großen Glaubenskundgebungen im Ermland gefolgt waren. Ob er geahnt haben mag, dass diese seine Worte zu einer Art geistlichem Testament werden sollte. Kaller hat sich den sehnlichsten Wunsch von Jesus Christus zu Eigen gemacht, er hat ihn gelebt und gelehrt und hilft uns jetzt durch sein Vorbild: “Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt! Tragt den Glauben, tragt die Liebe hinaus in das Land!” Für Maximilian Kaller läuft seit 2003 ein Seligsprechungsprozess. Nachfolgend dokumentieren wir seine Predigt.

Predigt von 1947: Die Jugend ist das Salz der Erde

"Meine lieben heimatvertriebenen Brüder und Schwestern!

Mit großer Freude und Jubel im Herzen haben wir uns an diesem Wallfahrtsort der Mutter Gottes versammelt. Herzlich begrüße ich euch.

Ich begrüße euch im Namen des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs, der den Flüchtlingen große Liebe entgegenbringt; der für sie sorgt, wie er immer es kann; der selbst hierher geeilt wäre, wenn es ihm möglich gewesen wäre.

Ich begrüße euch im Namen der hochwürdigen Herren Patres dieser Wallfahrtskirche. Sie freuen sich über jede Wallfahrt; aber über diese, die so viele Tausende von Menschen umfasst, ist ihre Freude ganz besonders groß.

Gruß vom Heiligen Vater.

Ich begrüße euch, meine Lieben, in ganz besonderer Weise im Namen des Heiligen Vaters. Ihr wisst, dass er mir die Aufgabe übertragen hat, für euer Seelenheil in besonderer Weise zu wirken. Seine Liebe ist bei euch. Als ich im November des vergangenen Jahres bei ihm weilte und ihm Bericht erstattete über die Nöte der Heimatvertriebenen, sprach er mit ganz besonderer Liebe über euch; er trug mir seine Grüße an euch auf und sagte, er hätte schon lange allen in Deutschland, besonders den Heimatvertriebenen, helfen wollen; aber bis dahin war ihm jegliche Hilfe unmöglich. Er wollte, sagte er, nunmehr in großzügigster Weise sorgen. Und er hat zum großen Teil sein Versprechen schon erfüllt. Seid, meine Lieben, überzeugt, der Heilige Vater liebt euch und freut sich, dass ihr so eifrig seid im Dienste Gottes trotz der vielen Hindernisse, die euch entgegenstehen. Er sendet euch seinen apostolischen Segen, den ich euch am Ende der Predigt erteilen will.

Ich bin ja einer von euch.

Ich begrüße euch, meine Lieben, auch in meinem Namen. Ich bin ja einer von euch. Ihr Schlesier; wohl die meisten von euch stammen aus meinem Heimatland.

Ich begrüße euch, meine lieben Ermländer, meine lieben Diözesanen. Wie freue ich mich, wieder einmal mit euch zusammen sein zu können; und wenn es auch nicht möglich ist, mit jedem Einzelnen Worte zu wechseln, seid überzeugt, unsere gegenseitige Liebe besteht fort, so wie sie immer war, so wird sie auch bleiben.

Ich begrüße auch alle anderen, die ihr aus den anderen Teilen des Ostens gekommen seid. Wir alle tragen das gleiche Los, das gleiche Kreuz, wir alle wollen es tragen in Demut und Gottvertrauen.

Gottvertrauen auf Christus den Herrn.

Meine Lieben! Wir feiern heute das Fest der Apostelfürsten Petrus und Paulus. Was haben diese beiden Apostelfürsten uns zu sagen? Im Evangelium hörten wir eben die Frage des göttlichen Heilandes: “Für wen halten die Leute den Menschensohn?” Die einen sagten für Jeremias oder für einen anderen Propheten. Der Heiland stellt an sie die Frage: “Für wen haltet ihr mich?” Und Petrus antwortet: “Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!” Das war die Antwort des hl. Petrus. Welcher Glaube spricht daraus! Welches Gottvertrauen! So muss es auch bei uns sein. Unser Ein und Alles ist Christus, unser Herr. Er ist unser König, er ist unser Herr! Er lenkt unsere Schritte, er beherrscht unser ganzes Leben!

Wir wollen unser Leben nicht in zwei Teile teilen, das eine Leben, das am Sonntag dem Herrn gehört, und das andere Leben, dem wir in der Woche nachgehen. Für uns gibt es nur einen Weg im Leben: Christus, der gesagt hat: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben:” So, wie Petrus gesagt hat: “Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes”, so wollen auch wir in all unserer Bedrängnis, in all unserer Not immer wieder sagen: “Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Du bist und bleibst mein Herr und mein Gott!” Ihr wisst, wie der Herr dem Petrus den Auftrag gab: “Fahre hinaus in die Tiefe, und wirf das Netz zum Fange aus!” Petrus antwortete: “Auf dein Wort will ich das Netz auswerfen!” Das ist Gottvertrauen - und dieses Gottvertrauen müssen auch wir haben. Das ist das Fundament unseres Lebens: Gottvertrauen auf Christus, den Herrn! Wenn es uns noch so schlecht geht, und wenn wir noch so menschenunwürdig untergebracht sind und unsere Ernährung menschenunwürdig ist, und wenn wir manchmal Hoffnungslosigkeit in unserem Leben haben: Wir vertrauen auf den Herrn! Der Herr hat gesagt: Wenn ihr Glauben habt, d. h. Vertrauen, dann könnt ihr alles. Wenn ich zu diesem Berge spreche: “Tue dich hinfort von hier”, so hebt sich der Berg und wird sich forttun.

Ich frage euch: Haben wir ein solches Gottvertrauen, haben wir einen solchen Glauben? Ein solcher Glaube aber ist notwendig. Heute am Feste der Apostelfürsten Petrus und Paulus sollen wir diesen Glauben, dieses Gottvertrauen von neuem in uns beleben und stärken: Heute soll nicht Trauer in uns herrschen, heute sollen wir Gott danken, laut jubeln, weil er uns das kostbare Geschenk des Glaubens gegeben hat.

Das Kreuz ist eine kostbare Gabe.

Unsere heilige Kirche singt in den Gebeten des heutigen Tages: “Heut hat Petrus, das Haupt der Kirche, seinen Lebenslauf auf dem Kreuzesstamme beendet, Alleluja! Heut hat Paulus durch die Enthauptung seinen Lebenslauf vollendet, Alleluja!” Seht, so singt die Kirche über das Kreuz, so singt die Kirche über den Märtyrertod, Alleluja, Alleluja, Alleluja! Was sagt uns das? Das sagt uns: das Kreuz soll nicht eine furchtbare drückende Last für uns sein, das Kreuz soll ein besonderes Geschenk Gottes sein. Ich kann darüber nicht viel sagen, nur das eine: Der hl. Paulus sagt: “Ich will mich in nichts rühmen als einzig und allein in Christus und diesem als Gekreuzigten. Ich will nichts anderes haben, ich achte alles für gering, um allein Christus zu gewinnen und diesen als Gekreuzigten.”

Ja, meine lieben Heimatlosen, uns alle drückt das Kreuz. Keiner von uns ist ausgenommen. Das Kreuz ist doch von Gott geschaffen. Das Kreuz ist eine kostbare Gabe. Wir müssen es nur verstehen, und wir müssen es annehmen, so wie Christus es uns auferlegt hat. Christus hat sein Kreuz freiwillig auf sich genommen. Christus hat durch sein Kreuz die größte Tat der Weltgeschichte vollbracht: Die Erlösung! Und so ist für uns das Kreuz die größte Tat in unserem Leben. Wenn wir später einmal zurückschauen werden auf diese Zeit, in der wir Kreuzträger waren, werden wir erkennen - wenn wir das Kreuz in rechter Gesinnung tragen -, dass dieses für uns eine Zeit des Segens war. Darum sage ich euch, meine Lieben, nehmt das Kreuz auf euch, so wie Petrus es getan hat.

Symbolisch wurde heute ein großes Kreuz in die Kirche getragen. Es liegt am Altare. Das bedeutet: Wir Heimatvertriebenen, wir tragen unser Kreuz zum Altare, zum göttlichen Altare, und wir geloben, unser Kreuz so zu tragen, wie der Heiland es will. Mag kommen, was da will. Wir tragen das Kreuz, weil Gott es so will.

Die Liebe, sie trägt alles.

Was lehrt uns der hl. Paulus? Nur eines will ich euch nennen. Der hl. Paulus singt das große Lied der Liebe: “Wenn ich die Sprachen der Engel und Menschen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz, eine klingende Schelle. Und wenn ich alle Weisheit besäße und alle Wissenschaft, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Wenn ich alle meine Güter den Armen austeilte, ja selbst wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nutzt es nichts. Die Liebe ist geduldig und sanftmütig, sie lässt sich nicht erbittern. Die Liebe, sie trägt alles, sie leidet alles, sie duldet alles.” So sagt der hl. Apostel Paulus!

Schenkt allen eure Liebe.

Meine Lieben! Das ist für euch das Wichtigste in Euerem Leben. Ich weiß, dass ihr alle nach Liebe verlangt. Es gibt keinen Menschen, der nicht lieben möchte. Aber ihr werdet mir Recht geben. Machen wir oft nicht unsere Liebe abhängig von der Liebe der anderen? Ihr Lieben, wir als Heimatvertriebene, wir beklagen uns so oft darüber, dass wir nicht das nötige Verständnis finden, dass wir so wenig Liebe spüren. Haben wir aber schon daran gedacht, dass zuerst wir Liebe schenken müssen? Wie hat der göttliche Heiland geliebt? Hat er darauf gewartet, dass wir ihn zuerst lieben? Nein, Gott hat uns zuerst geliebt, und darum verlangt er von uns, dass auch wir zuerst lieben. Darum bitte ich euch, meine Lieben alle, öffnet euer Herz, lasst die Liebe aus eurem Herzen hervorquellen. Schenkt all denen, bei denen ihr wohnt, eure Liebe. Ich sage euch, diese eure Liebe wird Wunder wirken; sie wird die Liebe, die vielleicht noch in den Herzen der anderen verschlossen ist, wecken, und es werden auch auf euch die Ströme der Liebe kommen. Darum bitte ich euch, öffnet euer Herz, tut es weit auf der Liebe zum Nächsten; zu euren heimatvertriebenen Brüdern und Schwestern, aber in gleicher Weise auch zu allen denen, mit welchen ihr jetzt in Berührung steht. Von der Liebe heißt es: “Sie trägt alles, sie leidet alles, sie duldet alles.”

Seid Apostel, im Glauben und in der Liebe!

Noch ein Wort möchte ich euch sagen, an das uns das heutige Fest erinnert: - Wir feiern das Fest der Apostelfürsten - Apostel sein! Dazu hat der Herr sie berufen. Er sagte ausdrücklich zu ihnen: “Nicht ihr habt Mich erwählt, sondern Ich habe euch erwählt, damit ihr hingehet, damit ihr Früchte bringet und eure Früchte bleiben.” Der Herr hat die Apostel berufen. Auch euch hat der Herr gerufen. Einmal sprach der Herr zum jüdischen Volke. Es waren nicht die Pharisäer da, es waren nicht die Schriftgelehrten, sondern das einfache jüdische Volk beisammen, von dem die oberen Schichten nicht viel hielten. Der Heiland sprach zu ihnen: “Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt. Man stellt ein Licht nicht unter den Scheffel, sondern man stellt es auf den Leuchter, damit es alle sehen, die im Hause sind”, und er fährt fort: “So lasset also auch euer Licht unter den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und den Vater preisen, der im Himmel ist!”

Und so sage ich euch: Auch ihr seid berufen, Apostel zu sein! Gerade ihr Heimatlosen, ihr sollt Apostel sein! Ich will euch einen Beweis dafür geben, dass schon so manche unter euch Apostel sind: Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit, sowohl mit dem hochwürdigsten Herrn Erzbischof von Paderborn, als auch mit dem hochwürdigsten Herrn Bischof von Osnabrück zu sprechen. Sie kamen beide von Firmungsreisen aus der Diaspora zurück und sprachen mit Bewunderung davon, wie so manche Katholiken in der Diaspora wunderbare Apostel sind. Wie sie die ganze Gemeinde neu aufbauen: wie sie neues katholisches Leben in diese Gemeinden hineinbringen. Dort, wo früher nicht ein Hauch von Glauben und nicht ein Hauch von Liebe zu spüren war! Durch die Heimatlosen wurden in diese Diaspora der Glaube und die Liebe gebracht.

Seht, ihr alle seid Apostel, und jeder von euch soll das Licht des Glaubens leuchten lassen. Ich frage euch: Könnt ihr das? Wenn ich euch fragen würde: Könnt ihr predigen? Dann würdet ihr wohl sagen: Das kann ich nicht! Aber wenn ich euch frage: Könnt ihr glauben? Ihr müsst antworten: Ja! Könnt ihr diesen Glauben auch zeigen? Ihr müsst sagen: Ja! Ich frage weiter: Könnt ihr lieben? Ihr müsst antworten: Ja! Darum seid Apostel im Glauben, seid Apostel in der Liebe! Sorgt dafür, dass in der Diaspora durch euch neues Leben erblühe. Dann habt ihr eure Aufgabe erfüllt. Warum hat Gott es zugelassen, dass wir in die Diaspora kamen? Schon von Tausenden von Jahren wurde in der Hl. Schrift die Antwort darauf gegeben: Damit ihr kündet von den Großtaten Gottes! Das ist eure große Aufgabe. Gott hat euch dazu bestimmt. Der Hl. Vater sagt dazu: “Wir danken alle in Demut auf den Knien Gott dafür, dass er gerade in unserer Zeit so viel Laienapostel erstehen ließ, die mit der Sorge um das eigene Seelenheil verbinden die Sorge um das Seelenheil der anderen.”

Die Jugend ist das Salz der Erde.

So fordere ich euch alle auf: Werdet Apostel!

Aber einige von euch rufe ich ganz besonders auf. Das ist unsere Jugend, das sind unsere jungen Männer, das sind unsere jungen Mädchen. Ich weiß, wie von euch in der Diaspora gearbeitet wird. Ich hielt mich ein Jahr lang in Halle auf, einer Stadt, die ungefähr nur 6% Katholiken hat. Dort wurden nach der Kapitulation drei männliche Jugendgruppen gebildet. Seit dieser Zeit sind daraus 18 geworden. Das heißt Apostel sein! Die Jugend ist das Salz der Erde, das Licht der Welt. Mit ihrer Energie, mit ihrer Begeisterung, mit ihrer jugendlichen Frische und Kraft ist sie in besonderer Weise berufen, Apostel zu sein; katholisches Leben zu wecken. Und so fordere ich euch, meine lieben Jungmänner und Jungfrauen, auf: Werdet Apostel! Ich habe ein großes Vertrauen zu euch; ich sage das, obwohl manche anderer Meinung sind. Man spricht heute von einer Verwahrlosung der Jugend. Für einen Teil stimmt das sicher. Aber heute gibt es unter unseren Jungmännern und Jungmädchen eine größere Zahl als früher solcher, die mit brennender Liebe nichts anderes sehnlicher wünschen, als für Christus einzustehen. Und das erwarte ich von euch, meine lieben Jungmänner und Jungfrauen. Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt! Tragt den Glauben, tragt die Liebe hinaus in das Land. Ihr werdet so erkennen, dass eure Vertreibung aus der Heimat ein großer Segen werden kann, wenn ihr sie so versteht, wie Christus es haben will.

Gott segne euch alle, damit ihr diese Worte versteht, danach handelt und dadurch glücklich werdet.

 Amen."

Kaller: Beitrag der Heimatlosen zum Frieden

Der im Jahr 1947 verfasste Fastenhirtenbrief von Bischof Maximilian Kaller, der vom Papst mit der Seelsorge an den heimatvertriebenen Deutschen betraut worden war, ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Frieden und Versöhnung mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten. Er trägt den Titel "Fastenhirtenbrief über den Beitrag der Heimatlosen zum Frieden". Nachfolgend wird der Wortlaut dokumentiert:

Hirtenbrief von 1947: "Ich denke Gedanken des Friedens"

"Liebe heimatvertriebene Brüder und Schwestern!

Auf unserem Kreuzweg seit der Vertreibung aus der Heimat sind wir in dieser Fastenzeit an eine neue Station gelangt: „Was soll denn aus uns werden, aus uns, den unglücklichsten Opfern des Krieges, aus uns, die nicht nur Hab und Gut wie so viele Menschen in dem geschlagenen Vaterland verloren haben, sondern auch ihre Heimat?“ Auf diese bange und gar zu oft verzweifelte Frage hoffen wir nach dem Abschluß der jetzt beginnenden Friedensverhandlungen Antwort zu erhalten. Eine Antwort, die unser ganzes Volk angeht, die aber uns Heimatvertriebene in ganz besonderer Weise betrifft.

Als der vom Hl. Vater bestellte Sprecher und Vertreter einer besonderen Not und Sorge danke ich den deutschen Oberhirten für ihr aufrüttelndes Wort, das sie aus diesem für unser Volk so wichtigen Anlaß am 9. März von den Kanzeln verlesen ließen. Mit ganz besonderem Ernst und Eifer wollen wir Heimatvertriebenen ihrer Mahnung zum Gebet um einen wahren und gerechten Frieden, nachkommen, der den Grundsätzen entspricht,  die unser Hl. Vater immer wieder den verantwortlichen Staatsmännern der Welt ins Gewissen gerufen hat. Einen Frieden, der nicht ein Werk der Machtgier und Rachsucht ist, sondern einen Frieden der Gerechtigkeit und der völkerversöhnenden Liebe.

Haben wir Heimatvertriebenen angesichts unserer trostlosen Lage wirklich noch den Mut und die Kraft zu einem solchen Gebet? Tragt das Wort „Frieden“ noch eine Verheißung für uns in sich? Scheinen wir nicht völlig der Willkür der Mächtigen preisgegeben, da wir auf die bevorstehenden Verhandlungen über den Frieden keinen Einfluß haben und vor der endgültigen Entscheidung nicht einmal gehört werden sollen?

Wir haben dankbar vernommen, daß in aller Welt die Stimmen derer sich mehren, die zur Mäßigung der Vergeltungsansprüche und zur Verantwortung gegenüber dem unteilbaren Frieden der ganzen Menschheit mahnen, der nur auf der Achtung der gottgegebenen Völker- und Menschenrechte geschlossen werden kann. Wir wissen auch, daß führende Männer der Siegerstaaten davor gewarnt haben, die fluchwürdigen Methoden der Verführer und Verderber unseres Volkes und der Zerstörer des europäischen Friedens in den Entschlüssen der Siegermächte wieder aufleben zu lassen. Unser Volk atmete auf, als es aus berufenem Munde hörte, daß die Grundsätze der Atlantic-Charta für alle Völker, also auch für das geschlagene deutsche Volk zur Geltung gebracht werden sollen. Das heißt also, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Recht auf unsere seit Jahrhunderten angestammte Heimat in unbestreitbar deutschen Gebieten geachtet werden soll. Wir wissen uns mit dem Gewissen aller rechtlich Denkenden in der Welt darin eins, daß die Vertreibung und Verelendung vieler Millionen deutscher Menschen ein Unrecht ist, das auch durch die verbrecherische Politik der durch die Geschichte gerichteten deutschen Machthaber nie entschuldigt werden kann.

Wir wissen nicht, wie die Staatsmänner über unsere Zukunft entscheiden werden. „Wer kennt das Herz der Menschen?“ Aber eins wissen wir: „Christus der Herr thront über alle Herrschaften, Gewalten, Mächte und Kräfte und was sonst für Namen genannt werden. Alles ist Ihm unterstellt" (Eph. l, 21.). Sind wir denn nicht in der jüngsten Vergangenheit Zeugen gewesen, wie „der Herr die Mächte und Gewalten entwaffnet, zur Schau gestellt und durch Ihn über sie triumphiert hat“? (Kol. 2, 15.) Das ist unser unerschütterlicher Glaube: Christus ist der Herr der Geschichte und kein Friede ist von Dauer, der nicht mit Ihm geschlossen wird.

Darum bauen wir nicht auf Menschen, sondern auf Gott. Mit der Kirche beten wir: auch wenn „Todesstöhnen uns umfangen hält“ (Ps. 17, 5.: Introitus von Septuagesima): „Wach auf, was schläfst Du, Herr, verstoß uns nicht auf ewig. Was wendest Du Dein Antlitz ab, vergissest unsere Not: es klebt am Boden unser Leib, wach auf, Herr, hilf uns, erlöse uns!“ (Ps. 43, 23-26.: Introitus von Sexagesima.) Auch in unserer menschlich gesehen so verzweifelten Lage hören wir die göttliche Verheißung: „Du bist zur rechten Zeit der Helfer in der Not. Drum mögen auf Dich hoffen, die Dich kennen: denn Du, o Herr, verlassest keinen, der Dich sucht: denn nicht auf immer wird vergessen sein der Arme, des Armen Leiden gehen nicht verloren für die Ewigkeit. Steh auf, o Herr, nicht soll der Mensch obsiegen!“ (Ps. 9, 10-11.; 19-20.: Gradualevon Septuagesima). Aus diesen Gebeten der hl. Messe schöpfen wir den Mut, auch in dieser Stunde nicht Gedanken der Verzweiflung, sondern Gedanken des Friedens, die Gedanken Gottes mitzudenken. Auf diesem Wege nehmen wir teil an Gottes Entscheidungen über den Friedensschluß, der das Schicksal des deutschen Volkes besiegeln soll. Diese Gebete der Kirche müssen wir zu den unseren machen. Keine Enttäuschung darf uns abhalten, um den Frieden zu beten.

Das ist unser großer Beitrag zum Frieden, meine lieben Heimatvertriebenen; die wir am schwersten von den Folgen des Krieges betroffen sind: In demütigem, buß­fertigem Beten wollen wir in die Zulassungen Gottes ein­willigen. Durch die betende Teilnahme am heiligen Opfer unseres Herrn finden wir immer wieder die Kraft, unser Herz mit seinen bösen Leidenschaften, mit Habsucht und Neid, mit Rachsucht und Haß zu kreuzigen. Finden wir die Kraft, unseren eigenen Willen unter Gottes Heilsratschluß zu beugen.

Mit dem Gebet muß sich unser Opfer verbinden. Für uns bestellt es besonders in dein geduldigen, freiwilligen Erleiden des uns zugefügten Unrechtes. Dadurch folgen wir dem Heiland nach und tragen mit ihm sühnend die furchtbare Anhäufung von Schuld in dieser Welt ab.

So allein brechen wir die Macht des Bösen in der Welt, so schaffen wir Raum für den Willen Gottes, der so wunderbar ausgesprochen ist in den Eingangsgebeten der letzten Sonntage im Kirchenjahr: „Ich denke Gedanken des Friedens, nicht des Verderbens. Ihr werdet zu mir rufen und ich werde Euch erhören, heimführen werde ich Euch aus der Gefangenschaft von überall her“! (Ps. 84, 2.) Unser mit Christus getragenes Leid und unser geläutertes Gebet werden Gott bewegen, unsere Sache wieder gnädig zu der Seinigen zu machen und unsere Not zu wenden, denn Gott, der Allmächtige, Schöpfer und Herr, ist unser Vater. Er hat den Menschen mit dem Leben auch Heimatrecht auf dieser Erde geschenkt, er will, daß der Mensch Heimat habe, er will, daßer sie wiederfinde, wenn er sie verloren hat.

Gebet und Sühne führen von selbst zur lebendigen Verwirklichung des Friedens. Wer um den Frieden betet, muß auch dem Frieden leben. Den Frieden, den wir unter dem Kreuze in unsere zerquälten Herzen empfangen, müssen wir in unsere zerrissenen Familien tragen, in unsere friedlosen Häuser, wo unversöhnt und murrend Heimatvertriebene als ungebetene Gäste mit den bedrängten Einheimischen zusammenleben. Aus der Versöhnung der Familien- und Hausgemeinschaften im Geiste der Buße und in gegenseitigem Vergeben unserer Schuld wächst der Friede in den Gemeinden und allmählich in unserm ganzen, aus unzähligen Wunden blutenden Volke.

Der innere Friede des Volkes, den Gott uns als Grundlage des äußeren Friedens abverlangt, ist leider noch so wenig verwirklicht, daß wir fürchten, für dieses kostbare Gut noch große Opfer bringen zu müssen, vielleicht sogar ein weiteres, schmerzliches Warten auf die Rückkehr in die Heimat. Wissen wir doch, daß der gütige und heilige Gott sein wankelmütiges Volk einst aus der ihm geschenkten Heimat des Gelobten Landes in die Verbannung treiben ließ. Aber wir trösten uns mit der zuversichtlichen Hoffnung des „gläubigen Restes“ des auserwählten Volkes, der die Heimat wiedersehen durfte.

Unterdessen gehen wir daran, bereitwillig alle Prüfungen auf uns zu nehmen, die der Erhörung unserer Bitten vorausgehen. Wir folgen darin den großen Vorbildern der Heilsgeschichte: gehorsam wie Abraham, der seinen Sohn auf den Altar legte, weil Gott es forderte und dem Gott den Sohn wiederschenkte, als er zum letzten Opfer bereit war; gehorsam wie die hl. Familie, die aus der Armut des Stalles von Bethlehem auch noch in die Fremde Ägyptens flüchten mußte - und nach dem Tode ihres Verfolgers Herodes nach Nazareth heimkehren durfte; gehorsam wie der Heiland, der „nicht wußte, wohin er sein Haupt hinlegen sollte, und doch gnadenspendend über die Erde ging“ (vgl. Mt. 8, 20.) und den „Armen, Erniedrigten, Entehrten und Verlorenen die frohe Botschaft vom Reich Gottes brachte“ (Lk. 4, 18.). Wir sind wahrlich in tiefste Armut gesunken, aller wir haben ein Ohr für das Heilandswort: „Selig, ihr Armen, denn euer ist das Gottesreich, selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt. Selig, die ihr jetzt weinet, denn ihr werdet lachen.“ (Lk. 6, 20-21). Seligkeit ist uns verheißen. Gott hat uns so ohnmächtig werden lassen, um unser stolzes Herz zu bezwingen und uns der Güter seines Reiches teilhaftig zu machen. Alle seine Heiligen, voran der sieghafte Bettler Franziskus von Assissi, haben den Weg der Armut gewählt, weil er frei macht, von der Last und Gefangenschaft irdischen Besitzes. Laßt uns die gewaltsam auferlegte Armut, laßt uns Erniedrigung und Schande mit innerer Freiheit tragen und uns den Weg zum Frieden bahnen!

Wie frei fühlen wir uns oft denen gegenüber, die noch krampfhaft am unverdient bewahrt gebliebenen Besitz hängen und, innerlich versklavt, in ständiger Versuchung sind, sich gegen die ausgleichende Gerechtigkeit und gegen die Nächstenliebe zu verfehlen. Aber wie leicht verfallen auch wir der gleichen Sklaverei des Herzens, dem Neid, wenn wir die Armut nicht als Gottes barmherzige Gabe in dieser Stunde der Prüfung erkennen.

Wohl weiß ich, meine lieben, armen Leidensgenossen, wie herb Euch diese Rede erscheint. Aber ich habe in Euren Reihen schon viele angetroffen, welche die Gnade der Armut verstehen und deren Augen heller leuchten als die sorgenvollen Blicke der Besitzenden in diesen Tagen der Ungewißheit. Die aus demütigem Gebet unter dem Kreuze Christi erwachsene Liebe zur Armut um des Reiches Gottes Willen ist der unfehlbare Weg zum inneren Frieden unseres Volkes den kein Mächtiger der Welt uns schenken kann. Ja, wir dienen mit unserer selig gepriesenen Armut nicht nur unserem kranken Volk, sondern beschenken die Reichen und Stolzen dieser Welt mit einem Schatz, der ihnen verborgen geblieben ist und den sie bitter nötig haben, wenn sie auch heute nicht nach ihm verlangen. Mit dem flehentlichen Ruf: „Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme Dich unser und gib uns den Frieden!“ wollen wir beten mit allen Heiligen der ganzen katholischen Kirche für jene, die heute berufen sind, der Welt den Frieden zu schenken, wollen wir beten für alle, die uns unrecht tun und die unsere Not nicht achten: wollen wir beten für alle unglücklichen Opfer dieser Not, die friedlos in Verzweiflung versinken, und sie dem besonderen Schutze der schmerzhaften Mutter Gottes,der Trösterin der Betrübten, empfehlen.

Auf diesem Wege zum Frieden begleiten uns, wie tröstliche Nachrichten aus dem Ausland bezeugen, die Gebete und Opfer vieler Christen aus der ganzen Welt, auch in früher feindlichen Völkern, die zu einem Gebetskreuzzug für Deutschland aufrufen.

Möge der auferstandene Heiland, dem wir mit allen Völkern und mit den Mächtigen dieser Erde zum letzten Gericht entgegengehen, unser Gebet erhören und den Seinigen den Ostergruß entbieten: „Der Friede sei mit Euch“! (Job. 20, 20.) Amen.

+ Maximilian Kaller
Bischof von Ermland"